Gedanken zur Diktion

Das Thema Diktion wird beim anfänglichen Gesangsunterricht oft (zu Recht) etwas vernachlässigt, um die Stimme durch ausgewogene und ausgeglichene Vokale erst einmal zum Klingen zu bringen. Dies ist auch ganz gut so, bis zu dem Moment, wo einen die Konsonanten scheinbar am Singen hindern und zum “Fremdkörper” im Gesang werden. Dies findet meist zu einem Moment statt, wo sich beim angehenden Sänger der Wunsch nach künstlerischem Ausdruck manifestiert, und die Stimme ihre Klangcharakteristik (Timbre) erahnen lässt, sprich: anfängt zu “klingen”.

Dazu ein paar Gedanken:

Warum singen wir überhaupt? Wieso meinen wir, unsere Gefühle über die Sprachebene hinaus ausdrücken zu können?

Ich möchte jetzt nicht mit evolutionären Theorien aufwarten, sondern meine Gedanken ganz leicht nachvollziehbar aus unserem alltäglichen Empfinden entwickeln.

Der Klang der Stimme ist an und für sich schon ein “Sinnträger”. Wir hören anhand des Stimmklanges, ob der Mitmensch traurig, albern, angespannt, ängstlich, krank oder gesund ist. Der Klang eines weinenden Babys löst in uns allen ein Mißgefühl aus, ob Mann oder Frau, und treibt uns dazu, nach dem Rechten zu sehen. Lachen und Weinen klingt auf der ganzen Welt bei allen Menschen relativ ähnlich. Genauso wie der Schmerzensschrei.

Der Klang der menschlichen Stimme ist also etwas, was uns Menschen in unserer Kreatürlichkeit miteinander verbindet, das Empathie auslöst und schon nonverbal Kommunikation bedeutet. Daher auch die Begeisterung der Menschen für jegliche Form des Gesangs, unabhängig vom Genre.

Im Kunstgesang, der in der Regel unverstärkt ausgeführt wird, kommt noch eine weitere Ebene hinzu, die über die Ebene des reinen Klanges hinausgeht: die Ebene des Schalldrucks. Dadurch, dass ein Mensch durch seine Stimme die Luft in Schwingung versetzt und so die Hörorgane des anderen stimuliert (im Falle eines sehr lauten Tones sogar erschüttert), geht der Zuhörer im Augenblick des Hörens eine intime Beziehung mit diesem evozierenden Individuum ein. Der Sänger ist mit seinen Schwingung “in dem Zuhörer”, betritt also dessen körperliches Heiligtum. Wenn der Sänger es schafft, in seinem Gesang seine Kreatürlichkeit und seine Seele zum Sprechen (od er Klingen) zu bringen, so entsteht unmittelbar ein tiefes Verständnis zwischen den beiden Individuen. Die meisten Gesangsbegeisterten haben es schon einmal erlebt, von einer Sängerin oder einem Sänger geradezu überwältigt zu werden von einer Woge an Gefühlen, die alle Barrieren fallen lässt. Eine wunderbare, bereichernde Erfahrung.

Doch das Geschilderte betrifft eigentlich weniger die Diktion, sondern mehr die reine Lautgebung. Es ist nicht weiter nötig zu erwähnen, dass man nur mit einem unforcierten, schwingenden Ton diese Wirkung beim Zuhörer erwecken kann.

Aber ich wollte mich heute ja vor allem der Diktion widmen, denn auch die Diktion kann uns helfen, eine Brücke zum Zuhörer zu schlagen. Allerdings ist hierbei die Sprache eine natürliche Barriere. Anders als beim vollschwingenden schönen Ton, der über alle Sprachbarrieren hin erschüttern und begeistern kann, sind die Konsonanten und Vokalschattierungen Teile eines hermeneutischen Konstrukts, das von Sprache zu Sprache unterschiedlich ist und nur vom “kompatiblen” Empfänger empfangen werden kann.

Meine folgenden Gedanken funktionieren allerdings in jeder Sprache. Grundvoraussetzung ist aber eine Beschäftigung mit der Fremdsprache, in der man zu singen gedenkt und zwar über die reine Übersetzung hinaus.

Entscheidend ist es, sinntragende von nicht-sinntragenden Klängen zu unterscheiden. Ich werde der Einfachheit halber im Deutschen bleiben, um meine Gedanken nachvollziehbar zu machen. Es gibt in der deutschen Sprache viele Worte mit schöner Lautmalerei, wie zum Beispiel: Der “Riss”. Man hört im Doppel-S förmlich einen Stoff, oder ein Papier zerreissen. Sinntragender Klang ist in diesem Fall also das “S”. Andere Beispiele wären das stimmhafte S in “Summen”, oder die Lautkombination “BR” mit dem Doppel-M in “Brummen”. Sofort hat man das Original vor dem geistigen Ohr.

Aber auch Worte, die keine lautmalerische Qualität haben, besitzen sinntragende Klänge. Gutes Beispiel immer wieder: “Liebe”. Dieses Gefühl hat keinen Klang, trotzdem ist das “L” natürlich beim Aussprechen dieses wertvollsten Wortes extrem mit Sinn und Emotion aufgeladen. Beim Gegenteil “Hass” fühlt man förmlich die Abscheu bei dem an Ausspucken gemahnendem Doppel-S am Ende des Wortes.

Entscheidend bei der sängerischen Diktion ist es also, sich der Sinnaufladung oder auch der emotionalen Aufladung der Konsonanten und Vokale im Vorfeld bewusst zu werden um die Klänge dann beim Singen wieder mit der jeweiligen Aufladung auszustatten zu  können, unabhängig von der eigenen emotionalen Beteiligung – ob diese beim emotionalen Singen wirklich nötig ist, wäre ein Thema für einen eigenen Blogeintrag, daher gehe ich darauf nicht weiter ein.  Dieses Bewußtsein über die emotionale Aufladung bedeutet, wie schon vorher gesagt, natürlich eine intensive Auseinandersetzung mit der jeweiligen Sprache. Ich rate daher jedem Studenten des Gesanges oder Sänger/in sich frühzeitig mit den wichtigsten Sprachen zu beschäftigen und nicht nur mit Grammatik und Vokabular, sonder auch mit den emotionalen Komponenten der jeweiligen Worte. Das geht im Grunde am besten im Gespräch mit einem Muttersprachler. Zum Beispiel lasse ich mir gerne von einem Muttersprachler die entscheidenden Passagen vortragen und mir dabei schildern, was er bei den einzelnen Worten empfindet. Oft bekommt man da schon wichtige Hinweise auf die Emotion- und Sinn-stiftenden Klänge.

Als Fazit möchte ich auf dem Weg geben:

Sucht immer nach den Klängen, in denen die Emotion und Urgewalt des jeweiligen Wortes steckt.

Sprecht Euch das Wort vor, versucht es dann zu singen und versucht dann den sinntragenden Teil soweit zu verstärken, dass über die Bedeutung und die Emotion auch bei einem (fiktiven) Zuhörer kein Zweifel mehr bestehen kann. Versucht nun den Klang ins Metrum und die Melodie einzupassen, ohne dass von der Aufladung etwas verloren geht. Wenn man so konsequent vorgeht und die Stimme unverkrampft führt, wird man so bereits eine erste Interpretation haben, die schon eine gewisse Gültigkeit hat. Im nächsten Schritt muss man natürlich noch seine Dramaturgie für das Stück zurechtlegen, doch das gehört in den Bereich der Interpretation und nicht mehr in den Bereich der Technik – und um den geht es ja heute, wenn ich über Diktion spreche, auch wenn ich keine konkreten Tipps zu mechanischen Abläufen schildere. Aber bei gutem Gesang kann man Technik und Gestaltungswillen sowieso nie trennen, oder man sollte es nicht, denn wie ich oben bereits sagte: Warum singen wir überhaupt? “Weil wir durch unsere Stimme mit anderen Individuen in Kontakt treten wollen und etwas über uns und unsere Kreatürlichkeit sagen wollen, worüber Worte nur schwer Auskunft erteilen können.”

Ein wichtiger Tipp in Richtung Interpretation in Bezug auf die Diktion trotzdem noch: Zu viele Farben gemischt ergeben immer grau. Sucht Euch in Eurer Phrase immer nur ein bis zwei Worte aus, denen Ihr in der Phrase ein Schlaglicht geben wollt. Den Rest kann man etwas neutraler Behandeln, ohne allerdings schlampig zu sprechen.  Dies dient der Klarheit und auch der Aufladung der Sinnträger, denn zwischen zwei stark aufgeladenen Worten muss sich der Akku, wie bei einem Blitz an der Kamera, immer wieder erst kurz aufladen.

Zur Interpretation, speziell im Liedgesang, werde ich bei Gelegenheit auch noch mal etwas schreiben.

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